Mit der Lesedauer rückt der Mensch einen weiteren Schritt näher zur Maschine.
November 07, 2016

Lesedauer 2 Minuten

Glauben Sie mir das?

Seit einiger Zeit bekommen die Angaben zur Lesedauer über einem Artikel im Netz mächtig Zulauf. Die einen finden das gut, weil man den zu lesenden Text besser in den eigenen Zeitplan integrieren kann. Andere finden das aber nicht gut, weil sie erstens Messwerte oder Kennzahlen grundsätzlich doof finden, und zum anderen glauben, dass solch ein Kokolores der viel geforderten, aber selten umgesetzten Entschleunigung ein Bein stellt und den allgemeinen Leistungsdruck beflügelt, indem mit realitätsverzerrenden Durchschnittswerten hantiert wird. Viele sehen gar kein Problem, die einen nähern sich diesem vielleicht mithilfe einer sachlichen Erörterung, während andere aus spaßfaktorischen Motiven die Polemik wählen. Ich bin andere.

Die Ära der Effizienz

Es überleben nur Werte, die messbar sind

Im Text-Netz etabliert sich also eine neue Kennzahl: die Lesedauer. Zeit ist zum raren Gut geworden und so ist es nur folgerichtig, dass man den Leser eines Textes exakt vorwarnt: Pass ma‘ auf du, überleg dir gut, ob du den Quark hier wirklich lesen willst, denn damit verschwendest du vier Minuten deiner wertvollen Lebenszeit. Ist das jetzt zuvorkommend oder wird hier einmal mehr der Lebensrhythmus diktiert, das Netzverhalten beschleunigt, damit wir effizienter lesen, mehr lesen, mehr klicken? Effizienz ist ja alles heutzutage. Wer sich nicht gleichzeitig die Zähne putzen und dabei rasieren kann, ist mindestens ein Teilversager, und auch WCT’s werden bald kommen, Water Closet Tablets, kleine praktische Einrichtungen, die beim morgendlichen Toilettengang halbhoch aus der Seitenwand vor der Schüssel ausgeklappt werden und Platz für Müsli sowie Kaffeetasse bieten, man sollte schließlich keine Zeit verschwenden. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Wo war ich? Richtig, bei der Lesedauer, die ich gerade mit voller Absicht unnötig in die Länge ziehe. Also was hat das nun mit der Lesedauer auf sich? Es folgen keine zwei, keine drei, keine vier, nein…

Ganze fünf streng wissenschaftlich erarbeitete Thesen zur Lesedauer:

Lese-These 1: Die Angabe der Lesedauer ist wirklich nett gemeint, damit wir unsere 20 Minuten Freizeit pro Tag besser einteilen können.

Lese-These 2: Man kann dem gehetzten Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr zumuten, einen interessanten Text zu lesen, ohne vorher zu wissen, wie lange das dauern wird.

Lese-These 3: Autoren, die eine gewisse Lesedauer unter- oder überschreiten, müssen so lange nachsitzen, bis sie ihre Schreibe der zu erwartenden Leseerwartung angepasst haben.

Lese-These 4: Statt sich auf minder quantitative Qualität zu fokussieren, wird die minder qualitative Quantität berechenbarer gestaltet.

Lese-These 5: Redaktionen möchten ihren Autoren statt einem Cent pro Wort nur noch einen Cent pro Lese-Minute zahlen.

Die Thesen zur Lesedauer wären noch zu beweisen, aber wenn die lieben Erfinder und Nutzer der Lesedauer-Kennzahl derweil eine Frage erlaubten: Woher wissen Sie denn, wie lange ich lese? Ach so, der Durchschnitt, diverse andere Kennzahlen, Bits, Lesegeschwindigkeit und so, ich verstehe. Alles gut, fein, aber beschwere sich doch bitte niemand, dass herausragende, schillernde Persönlichkeiten im Mainstream noch rarer werden als die Zeit selbst, wenn der massenmediale Pulk seine Schäfchen bei jeder Gelegenheit mit Gewalt zum Durchschnitt zu prügeln versucht.

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Beitragsdetails

KategorieAuf den Kopf gestellt

DatumNovember 07, 2016

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